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Symptome verschwinden nur, wenn man die Ursachen beseitigt – junge Menschen in gemeinsamer Verantwortung vor Gefährdungen schützen

Ein Einwurf des LIGA Fachausschusses HzE und Kinderschutz zum „Informationsschreiben zur Aufnahmeverpflichtung von Kindern und Jugendlichen im Berliner Notdienst Kinderschutz aufgrund akuter Kindeswohlgefährdung an die Träger der stationären- Kinder und Jugendhilfe und der stationären Eingliederungshilfe Jugend.“ der Senatsverwaltung Bildung, Jugend und Familie

Berlin, 24.07.2023

Sehr geehrte Frau Stappenbeck, sehr geehrte Kolleg*innen,

wir teilen die Ihrem Schreiben zugrundeliegende Sorge um die gute Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Gefährdungssituationen, insbesondere auch vor dem Hintergrund des vielfach thematisierten kritischen Zustandes des Berliner Notdienstes Kinderschutz (BNK).

Wir stehen ebenso ein für die gemeinsame Verantwortung von Politik, Landesbehörden, bezirklichen Jugendämtern und freien Trägern für die Verbesserung der Situation insgesamt - aber auch für die flexible Anpassung von Hilfen im Einzelfall zur Vermeidung von Hilfebeendigungen in kritischen Situationen.
Wir nehmen die sehr richtigen Hinweise aus dem aktuellen „Dankesbrief an Jugend- und Familienhilfe“ von Frau Senatorin Günther-Wünsch hier gerne auf: Ja, Jugendhilfe erfolgt aufgrund „angestauter Probleme“ weiterhin unter „schwierigsten Rahmenbedingungen“, ja es braucht „Lösungen“ und ja, es braucht dazu eine „gemeinsame Kraftanstrengung“. Wir freuen uns, dass in dieser Kurzanalyse der Ausgangslage Einigkeit besteht.

So verständlich und notwendig die Entlastung des BNK auch aus unserer Sicht zweifelsohne ist, eine einzelne Maßnahme zur Symptomlinderung ist nicht ausreichend um der Komplexität der Ursachen gerecht zu werden. Wir möchten daher in Ergänzung zu Ihrem Informationsschreiben vom 17.07.2023 nochmals auf wesentliche Punkte hinweisen, die unserer Überzeugung nach zu einer nachhaltigen Lösung nötig sind. Die entsprechend „aufgestauten Probleme“ sind nicht durch die freien Träger zu verantworten – Letztverantwortung und Leistungspflicht insbesondere für die Bereitstellung ausreichender Ressourcen und funktionierender Strukturen liegen bei der öffentlichen Jugendhilfe!

Wir bitten daher alle Beteiligten, sich mit der gleichen Klarheit und Entschiedenheit, mit der die Entlastung des BNK eingefordert wird, für die zügige Umsetzung der notwendigen Anpassungen im Berliner Jugendhilfesystem einzusetzen:

  • Die Handlungsfähigkeit der bezirklichen Jugendämter muss durchweg gewährleistet werden. Die Handlungsfähigkeit der bezirklichen Jugendämter wird – oft vor dem Hintergrund von Personalmangel oder Finanzierungsvorbehalten – von den freien Trägern seit Jahren als deutlich eingeschränkt erlebt. Dementsprechend sind von freien Trägern erkannte und kommunizierte Anpassungsbedarfe in einzelnen Hilfen oftmals nicht in der notwendigen Schnelligkeit möglich. Die verlässliche (persönliche) Erreichbarkeit in der Begleitung komplexer Hilfeverläufe und krisenhafter Situationen muss gesichert sein. Ebenfalls als Folge kommt es regelmäßig zu Fehlbelegungen, da in den freien Trägern die notwendigen Informationen bei Aufnahme junger Menschen nicht in der nötigen fachlichen Tiefe und Breite vorliegen - eine Überprüfung der Geeignetheit der Hilfe im Vorfeld kann entsprechend oftmals nicht im  erforderlichen Maß erfolgen.
     
  • Eine permanente kostenlose Leistungsausweitung durch die freien Träger kann nicht erwartet werden. In beiden Fällen (Fehlplatzierung oder nicht erfolgte Hilfeanpassung) kann von der öffentlichen Jugendhilfe eine einseitige längerfristige Leistungsausweitung durch den freien Träger über die vertraglich vereinbarte Leistung im jeweiligen Angebot hinaus nicht erwartet werden. Entsprechend bleibt der Träger u.E. befugt, als allerletztes Mittel auch eine einseitige Beendigung einer Hilfe vorzunehmen - eine entsprechende kommunikative Einbindung aller Beteiligten sehen wir als selbstverständlich an.
     
  • Die Rahmenbedingungen der Hilfen müssen daher erweitert und flexibilisiert werden. Seit Jahren fordert die LIGA die Anpassung der Ausstattung der stationären Hilfen durch eine grundlegende Überarbeitung der wesentlichen Rahmenleistungsbeschreibungen (RLB), um den freien Trägern mehr Handlungsoptionen zu eröffnen. Die aktuellen Bemessungen der Gesamtpersonalausstattung sowie diverse nicht mehr zeitgemäße Pauschalierungen wichtiger fachlicher Ressourcen basieren auf finanzpolitisch motivierten Standardabsenkungen früherer Jahre. Kritische Situationen sind damit vorprogrammiert und nicht verlässlich zu bewältigen. Notwendig ist die zügige Umsetzung der bereits in Erarbeitung befindlichen Neubemessungen der Personalausstattung der stationären Wohngruppen (RLB D.6), eine entsprechende Anpassung auch der RLB D.7 (Krisengruppen der freien Träger) sowie die Berücksichtigung der so aktualisierten Rahmenbedingungen auch in anderen RLB.
     
  • Dem Fachkräftemangel in den HZE muss begegnet werden, um einen Platzausbau realisieren zu können. Um die Aufenthaltsdauer im BNK (und auch in den Krisengruppen der freien Träger) zu verkürzen, sind dringend zusätzliche Plätze für Anschlusshilfen notwendig. Wesentlicher Hemmschuh für deren Entstehen sind dabei u.a. der Mangel an Fachkräften und die finanziellen Belastungen der freien Träger durch die bislang von diesen allein zu tragenden Errichtungs- und Vorlaufkosten. Für beide Problemlagen sind im Berliner Dialogprozess Fachkräfte HZE Ideen entwickelt worden. Die dort bisher nur diskutierten Maßnahmen müssen nun dringend in Umsetzung kommen.
     
  • Die Koordinierungsstelle muss in Ihrer Arbeit gestärkt und ausgebaut werden. Die Koordinierungsstelle zur Entwicklung flexibler Hilfesettings für Kinder und Jugendliche mit komplexem Hilfebedarf leistet wichtige Arbeit gerade in kritischen Hilfeverläufen. Mit der begrenzten Ausstattung kann sie den tatsächlichen Unterstützungsbedarfen in Berlin nicht gerecht werden. Sie gehört langfristig und in größerem Umfang als jetzt abgesichert, um selbstverständlicher Teil der Jugendhilfelandschaft zu werden und das dahinterliegende Netzwerk ausbauen zu können.

Jeder krisenhaften Entlassung aus freien Trägern stehen zahlreiche Fälle gegenüber, in denen sich in den konkreten Wohngruppen mit allergrößtem Engagement und weit über die vertragsmäßigen Leistungen hinaus erfolgreich für das Gelingen und die Fortsetzung von Hilfen auch in kritischsten Situationen eingesetzt wird. Auch beeindruckende Beispiele für die sehr gute und flexible Zusammenarbeit von Jugendamt und freiem Träger lassen sich in großer Zahl benennen. Dies alles spricht dafür, dass das Grundproblem nicht in fehlendem Know-How, mangelnder Bereitschaft zu flexiblem Handeln oder einem Mangel an „Haltekultur“ besteht.

Es sind in erster Linie die „angestauten Probleme“ in Struktur und Ausstattung auf allen Ebenen, die dringend der Veränderung bedürfen.

Für nachhaltige Lösungen treten wir gerne gemeinsam mit Ihnen ein!

Mit freundliche Grüßen
LIGA Fachausschuss Hilfen zur Erziehung und Kinderschutz


Federführender Verband:
Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (DWBO)
Volker Stock
[E-Mail anzeigen]
030 820 97 269

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