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Die Krisenversorgung im Krisenmodus – der lange Weg zur Normalisierung braucht viele Schritte

Berlin, 16.08.2024

Ein Impulspapier für die fachpolitische Praxis um den andauernden Notstand im Berliner Notdienst Kinderschutz (BNK) zu beenden

Vor ziemlich genau einem Jahr nahm die LIGA Berlin bereits Stellung zum kritischen Zustand des Berliner Notdienstes Kinderschutz (BNK):

Seither ist einiges passiert, um die Situation zu verbessern, gereicht hat es offensichtlich noch nicht.

Dem damaligen Aufnahmestopp des Landes Berlin für Kinder aus laufenden Jugendhilfemaßnahmen setzten die Träger der freien Jugendhilfe inzwischen die Schaffung von 21 zusätzlichen BNK-Krisenplätzen - in Ergänzung zu den Plätzen des Landes Berlin - entgegen. Nun kommt es dennoch erneut zum Aufnahmestopp – immer noch verbleiben zu viele Kinder zu lang im BNK, ohne dass eine Anschlusshilfe gefunden wird.
Die Sorge um die gute Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Krisen- und Gefährdungssituationen hält also an.
Weiterhin sehen wir Fach- und Finanzpolitik, Landesbehörden, bezirkliche Jugendämter und freie Träger gemeinsam in der Verantwortung für die Verbesserung der Situation.

Aus diesem Selbstverständnis heraus sind die folgenden Impulse für die fachpolitische Praxis der dringende Appell, die für viele junge Menschen schier unerträgliche Situation sowohl mit kurzfristigen - aber vor allem langfristig angelegten strukturellen - Maßnahmen im Berliner Jugendhilfesystem endlich dauerhaft abzuwenden und dabei auch falsche Weichenstellungen aus der Vergangenheit zu korrigieren.

Was wurde schon erreicht?

  • Zum 1.9.2024 tritt nach abgeschlossener umfangreicher Überarbeitung die für die stationären Gruppenangebote zentrale Rahmenleistungsbeschreibung (RLB) D.6 in Kraft. Da-mit werden die Voraussetzungen für flexiblere und resilientere stationäre Plätze in der Regelversorgung geschaffen. Vor dem Hintergrund der 2–3-jährigen Laufzeit der zwischen Land und freien Trägern individuell zu vereinbarenden Trägerverträge für jedes einzelne Angebot, wird diese Veränderung jedoch erst in gut 2 Jahren die volle Wirkung entfalten können.
  • Mit der nun beschlossenen neuen RLB D.7a wurden die Voraussetzungen geschaffen, das dereinst aufgrund finanzpolitischer Unstimmigkeiten zwischen Land und Bezirken ab-geschaffte System dezentraler Krisengruppen neu aufzusetzen. Ziel ist es nun, dass in jedem Bezirk ein zusätzliches Krisenangebot mit Aufnahmeverpflichtung durch die freien Träger aufgebaut wird. Der damit einhergehende hohe organisatorische Aufwand und vor allem der sehr hohe Bedarf an zusätzlichen Fachkräften setzen der Umsetzungsgeschwindigkeit Grenzen.
  • Mit dem gestarteten „Platzausbauprogramm zur Schaffung neuer stationärer Plätze der Hilfen zur Erziehung und der Eingliederungshilfe Jugend“ erfolgt erstmals eine Förderung freier Träger bei der Schaffung neuer Plätze. Bisher wird das Programm noch wenig nachgefragt, dies mag neben den bekannten Grundschwierigkeiten (Verfügbarkeit von Fachkräften & geeigneten Immobilien) auch an einem aufwändigen Verwaltungsverfahren und dem Umstand liegen, dass es sich nur in geringem Umfang um eine tatsächliche Förderung, sondern im Wesentlichen um eine Liquiditätshilfe handelt.
Was kann sofort getan werden?
  • Eine „Task-Force-Krise“ aus Vertreter*innen der öffentlichen und freien Jugendhilfe sowie der Senatsfinanzverwaltung sollte kurz- und langfristig wirkende Maßnahmen entwickeln und deren Umsetzung anregen.
Was ist kurzfristig hilfreich?
  • Die freien Träger mit regulären Inobhutnahme-Angeboten (ohne Aufnahmeverpflichtung)fordern seit langem eine Anpassung der in der relevanten Rahmenleistungsbeschreibung(RLB) D.7 festgelegten Ausstattungsmerkmale, um ihre Angebote aufrechterhalten und Mitarbeitende für diese anspruchsvolle Aufgabe gewinnen zu können. Dem wurde bis-lang nicht entsprochen, als Folge sank die Zahl der Plätze im Laufe des letzten Jahresdeutlich. Im Rahmen eines kurzfristig einzuberufenden Runden-Tisches-Inobhutnahme mit den freien Trägern kann ausgelotet werden, mit welchen schnell herbeizuführenden Anpassungen die Platzzahlen gehalten und ggf. ausgebaut werden können.
    Die bestehenden Gruppenangebote in der Regelversorgung werden sukzessive auf die neuen Ausstattungsmerkmale der RLB D.6 (s.o.) umgestellt. Für neue Angebote sowie solche, die bisher lediglich im Umfang eines sogenannten „Regelangebotes“ organisiert sind, sollte eine Priorisierung in der Vertragsverhandlung erfolgen, um schneller neue Plätze zu schaffen und die Betreuungsstabilität der vorhandenen zu erhöhen.
  • Die „Koordinierungsstelle zur Entwicklung flexibler Hilfesettings für Kinder und Jugendliche mit komplexem Hilfebedarf“ kann die Arbeit des BNK temporär unterstützen, indem dort eingebrachten Fällen, die sich aktuell im BNK aufhalten, Priorität eingeräumt wird. Nach einer maximalen Aufenthaltsdauer sollte automatisch eine Vorlage bei der Koordinierungsstelle erfolgen. Entsprechende Ressourcen in der Koordinierungsstelle müssen gesichert sein.
  • Bei Aufnahmen in den BNK aufgrund der Beendigung (durch Jugendamt und/oder freie Träger) von laufenden Hilfen, ohne dass eine Anschlusshilfe gegeben ist, sollte ein temporäres Monitoring zur Überprüfung der Faktoren, die zur Beendigung geführt haben, er-folgen. Die LIGA bietet hier ihre Unterstützung an.
  • Viele neue Träger haben in den letzten Jahren die Tätigkeit aufgenommen oder ausgeweitet – und sind entsprechend nicht immer ausreichend über die Möglichkeiten informiert, die der Berliner Rahmenvertrag Jugendhilfe (BRVJug) zur Anpassung der Hilfe bei kritischen Verläufen bietet. Kurzfristig können gemeinsame Informationsformate der öffentlichen & freien Jugendhilfe aufgelegt werden, ergänzend zur gemeinsamen jährlichen Trägerversammlung, die dies in Teilen bereits leistet.
  • Ergänzend kann ggf. die temporäre Einführung eines Pauschalen Moduls zur schnellen Anpassung von Hilfen sinnvoll sein, um Hilfen kurzfristig intensivieren zu können.
  • Immer wieder scheinen fehlende Ressourcen bei der Platzsuche durch die unterbringen-den bezirklichen Jugendämter ein wesentlicher Hemmfaktor bei der Weitervermittlung in Folgeeinrichtungen zu sein. Seit Februar 2018 ist die Entwicklung eines Meldesystems zur Platzbelegung durch das Land beschlossen. Dies ist bisher unterblieben. Es sollte nun dringend kurzfristig zumindest eine Zwischenlösung zur Verbesserung der Platzsuche, für die sich im BNK aufhaltenden Kinder entwickelt werden.
  • Offenbar ist insbesondere für Kinder mit Bedarf an Eingliederungshilfe die Suche nach Anschlussmaßnahmen erschwert. Seit 1.1.24 haben diese einen Rechtsanspruch auf Begleitung und Unterstützung durch einen unabhängigen Verfahrenslotsen. Diese sollten regelhaft hinzugezogen werden, sobald für ein Kind im BNK ein entsprechender Bedarf festgestellt ist bzw. angenommen wird.

Was ist mittel- und langfristig dringend nötig?

  • Dem gravierenden Fachkräftemangel in der öffentlichen und freien Jugendhilfe muss endlich energisch begegnet werden, um die seit Jahren andauernde Leistungsminderung in den bezirklichen Jugendämtern (ca. 14-20% Stellenvakanz) zu verringern und den erforderlichen qualifizierten Platzausbau in den freien Trägen überhaupt realisieren zu können (allein über 200 neue Fachkräfte sind für die Umsetzung der neuen RLB 7.a (s.o.)nötig). Beides schränkt die passgenaue Hilfesuche, die Anpassung von Hilfen im Falle von kritischen Verläufen und die Gestaltung von Übergängen massiv ein. Der Fachkräftemangel ist DER treibende Faktor für die aktuelle Krise des BNK.
  • Um den riesigen Bedarf zu decken sind Förderprogramme zur Unterstützung von (Dualen) Ausbildungs- und Studienplätzen der relevanten Berufsgruppen in den Trägern der öffentlichen und freien Jugendhilfe unerlässlich – die bisherige Konzentration des Landes Berlin auf die bezirklichen Jugendämter hat zu keiner grundlegenden Verbesserung der Situation geführt. Es erscheint fahrlässig, das enorme Potential an Ausbildungskapazitäten der freien Träger für die Bewältigung dieser für alle Akteure der Berliner Jugendhilfezentralen Problemlage zu ignorieren. Auch die Profilierung der Ausbildungsgänge und eine Antwort auf den Wohnraummangel können die freien Träger nicht allein geben.
  • Ein tragfähiges fachpolitisches Konzept zur Umsetzung einer inklusiven Jugendhilfe ist in Berlin noch nicht erkennbar und muss dringend entwickelt werden. Es benötigt in jedem Fall entsprechend angepasste Rahmenleistungsbeschreibungen und eine dem Bedarf entsprechende Ausstattung. Die Einrichtung einer Inobhutnahme für Kinder mit Eingliederungshilfebedarf ist dringend zu prüfen.
  • Die Koordinierungsstelle (s.o.) muss in ihrer Arbeit gestärkt und sollte um dezentrale, bezirksbezogene Unterstützungsressourcen erweitert werden. Die begrenzte Ausstattung wird den tatsächlichen Unterstützungsbedarfen in Berlin nicht gerecht, dingend muss sie vor allem in die Lage versetzt werden, das konkrete Hilfen umsetzende Netzwerk freier Träger stabilisieren und ausbauen zu können.
  • Die bereits 2018 beschlossene Entwicklung eines Meldesystems zur Platzbelegung mussbegonnen werden. Ggf. müssen im Sinne einer praxisorientierten Priorisierung andere in der Entwicklung befindliche IT – Verfahren ausgesetzt / fallengelassen werden.
Was sollte auf keinen Fall passieren?
  • Die aktuell anvisierten Sparziele des Landes Berlin werden in erheblichem Umfang auch durch nicht besetzte Personalstellen in den Berliner Verwaltungen erreicht. Der Spardruck des Landes und der Bezirke darf die Stellenbesetzung in den bezirklichen Jugendämtern nicht weiter blockieren. Dies hat schon jetzt dramatische Folgewirkungen – nicht zuletzt verpufft die erhoffte Einsparwirkung durch den so provozierten Anstieg der Kosten für zu spät einsetzende Jugendhilfemaßnahmen.
  • Einsparungen in den Angeboten und Leistungsumfängen der Jugendhilfe wirken sich kontraproduktiv aus und müssen unterbleiben. Niedrigschwellige Entlastungsangebote für junge Menschen und Familien nach dem Jugendfördergesetz und im Rahmen des „Flexibudgets“ sind wichtige unterstützende und stabilisierende Angebote.
  • Kurzfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im BNK sind notwendig, eine dauerhafte Verbesserung lässt sich jedoch nur über langfristig wirkende Strukturanpassungen erreichen. Diese grundsätzlichen Anpassungen dürfen nicht hinter ein kurzatmiges Notprogramm zurücktreten.
Jahr für Jahr wird in Berlin auf den ca. 9000 stationären Plätzen der Träger der freien Jugendhilfe mit großem Engagement - oft über die vertragsmäßigen Leistungen hinaus - erfolgreich Hilfe für junge Menschen geleistet. Die gute und flexible Zusammenarbeit von Jugendamt und freiem Träger ist dabei die Regel. Sie wird aber immer wieder ausgebremst durch einen Mangel bei Strukturen und Ressourcen, dessen Wurzel sich oftmals in den rigiden, fachliche Auswirkungen ignorierenden, Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte findet. Diesen Fehler sollte man nicht fortsetzen, eine Wiederholung gar hätte fatale Folgen für die jetzt schon hochbelasteten jungen Menschen und deren Familien.

Für die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Lösungen stehen wir als LIGA-Verbände und die uns angeschlossenen Träger der freien Jugendhilfe weiterhin bereit und ein!

gez. Vorständin Andrea U.Asch
Federführung

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Kontakt:
LIGA Fachausschuss Hilfen zur Erziehung und Kinderschutz
Federführender Verband: Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (DWBO)
Volker Stock
[E-Mail anzeigen]
Tel.: 030 820 97 269

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